Umbenennung der Emil-Abderhalden-Straße – Antrag für die Stadtratssitzung am 26.05.2010

Beschlussvorschlag:                                       

Die Emil-Abderhalden-Straße wird umbenannt.

Begründung:       

Die Benennung von Straßen mit den Namen verstorbener Persönlichkeiten erfolgt, um das Andenken an diese zu bewahren und sie zu ehren. Diese Ehrung setzt eine entsprechende Lebensleistung – oft Verdienste um Stadt und Bewohner Halles – und Lebensführung der zu ehrenden Person voraus.

Emil Abderhalden, 1877 – 1950, war Biochemiker, seit 1911 Professor an der halleschen Universität und von 1931 – 1949 Präsident der Naturforscher-Akademie Leopoldina. Die historische Aufarbeitung seiner Leistungen (hauptsächlich) während der vergangenen 20 Jahre lässt seine Biographie heute in einem anderen Licht erscheinen, so dass eine Ehrung seiner Person durch einen Straßennamen in Halle nicht mehr angemessen ist.

Abderhalden war entschiedener Anhänger der Idee der Eugenik und gehörte zu den ersten, die daher aus „rassehygienischen“ Überlegungen heraus eine Sterilisierung von „erblich belasteten“ Menschen als notwendig erachteten. Abderhalden forderte eine „rassisch reine“ Gesellschaft und negierte die Lebensansprüche Behinderter, die für ihn nur „Ballastexistenzen“ waren. In der von ihm herausgegebenen und zeitweise einflussreichen Zeitschrift „Ethik“ wurden diese Vorstellungen propagiert. Es ist diese Anmaßung in seinen Handlungen, Forschungen und Publikationen, zwischen „rassisch gesunden“ und „lebensunwerten“ Menschen zu unterscheiden, die ihn zum „Vorreiter für die nationalsozialistische Medizinethik“ (Frewer 2000, 256) mit all ihren grausamen Folgen machte.

Nach allem Dafürhalten wollte Abderhalden die Eugenik nicht als aktive Vernichtung verstehen – doch die Möglichkeit der politischen Umsetzung seiner Forderungen hat er offensichtlich nicht zu Ende gedacht. Und selbst die radikale Umsetzung dieser Forderungen durch die Nationalsozialisten – wie etwa das die  Zwangssterilisationen von Behinderten  ermächtigende „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933  – führte nicht zu einem Umdenken. Sein 1935 zum Thema veröffentlichter Aufsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ gefiel dem Regime so sehr, dass selbst Propagandaminister Goebbels dessen Weiterverbreitung befürwortete. Abderhalden machte sich somit in dieser Frage zu einem überaus nützlichen Werkzeug der Nationalsozialisten.

Abderhalden trat zwar selbst nie in die NSDAP ein, gleichwohl ist seine Amtszeit als Präsident der Leopoldina nach 1933 durch seinen vorauseilenden Gehorsam gegenüber und die Kooperation mit dem Regime überschattet. Zeugnisse von Kritik am Regime, von wenigstens verzögerndem Verweigern oder gar Widerstand sind nicht auszumachen. Dies gipfelte schließlich darin, dass Abderhalden als Leopoldina-Präsident aus opportunistischen Erwägungen heraus die jüdischen Mitglieder aus der Akademie ausschließen ließ – als prominentestes Beispiel dieser Kampagne sei nur Albert Einstein erwähnt. Laut dem Protokoll der Vorstandssitzung der Leopoldina vom 23.11.1938 wurde beschlossen „den Rest der jüdischen Mitglieder auszumerzen. Es soll nicht zugewartet werden, bis ein entsprechender Befehl kommt“. Dem zuständigen Gauleiter teilte Abderhalden schließlich mit, dass die „Mitglieder jüdischer Abstimmung ausgemerzt worden“ seien. Hier hat sich ein herausragender Repräsentant der deutschen Wissenschaft, jemand der sich selbst als wissenschaftliche Koryphäe und Forscher von Weltrang sah, eben nicht helfend für seine Kollegen eingesetzt, sondern sie ihrem Schicksal überlassen. Viele der Leopoldina-Mitglieder jüdischer Abstammung konnten sich retten, doch sechs von ihnen wurden von den Nationalsozialisten in Konzentrationslagern umgebracht.

Schließlich sind heute auch Abderhaldens wissenschaftliche Leistungen und Verhaltensweisen zu hinterfragen. Maßgeblich für seinen frühen Ruhm und seine wissenschaftliche Stellung war die von ihm postulierte Theorie der „Abwehrfermente“. Diese Theorie war bald umstritten und ist inzwischen widerlegt – die von ihm behaupteten Stoffe existieren schlichtweg nicht. Da sich die biochemische Forschung Anfang des 20. Jahrhunderts noch in ihren Kinderschuhen befand, schwankt die Bewertung seines Verhaltens in der heutigen Forschung zwischen dem Vorwurf des Betrugs und deutlicher Skepsis angesichts seiner wiederholten Weigerungen, frühen Zweifeln an seiner Theorie wissenschaftlich nachzugehen. Es verbleibt der Beigeschmack wissenschaftlichen Fehlverhaltens aufgrund persönlicher Interessenlagen.

Aufgrund des inzwischen vorliegenden detailreichen Materials, welches oben zusammengefasst wurde, ist die Ehrung Abderhaldens in Abwägung aller Aspekte in unserem demokratisch verfassten Gemeinwesen, welches sich konstitutiv auf die unantastbare Würde des Menschen beruft, nicht länger hinnehmbar.

Vertiefende Literatur:

zu Abderhaldens Einstellung zur nationalsozialistischen Eugenik:

Frewer, Andreas: Medizin und Moral in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Die Zeitschrift „Ethik“ unter Emil Abderhalden. Frankfurt und New York: Campus, 2000.

Kaasch, Joachim und Kaasch, Michael: Emil Abderhalden. Ethik und Moral in Werk in Wirken eines Naturforschers. In: Frewert, Andreas und Neumann, Josef N. (Hg.): Medizingeschichte und Medizinethik. Kontroversen und Begründungsansätze 1900 – 1950. Frankfurt und New York: Campus, 2001. S. 204 – 246.

zu Abderhaldens Wirken als Präsident der Leopoldina:

Gerstengarbe, Sybille, Hallmann, Heidrun und Berg, Wieland: Die Leopoldina im Dritten Reich. In: Acta Historica Leopoldina 22 (1995), S. 168 – 204.

Gerstengarbe, Sybille und Seidler, Eduard: „… den Erfordernissen der Zeit in vollem Ausmaß angepasst.“ – Die Leopoldina von 1932 bis 1945. In: Parthier, Benno und von Engelhardt, Dietrich: 350 Jahre Leopoldina – Anspruch und Wirklichkeit. Festschrift der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina 1652 – 2002. Halle (Saale): Deutsche Akademie der Naturforscher, 2002. S. 227 – 262.

Kaasch, Joachim und Kaasch, Michael: Wissenschaftler und Leopoldina-Präsident im Dritten Reich: Emil Abderhalden und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. In: Acta Historica Leopoldina 22 (1995), S. 213 – 248.

zu Abderhaldens wissenschaftlichem Werk:

Deichmann, Ute und Müller-Hill, Benno: The Fraud of Abderhalden’s Enzymes, in: Nature, 393 (1998). S. 109 – 111.

Fattahi, Mir Taher: Emil Abderhalden (1877 – 1950): Die Abwehrfermente : Ein langer Irrweg oder wissenschaftlicher Betrug? Bochum: Dissertation, 2006.

Kaasch, Michael: Sensation, Irrtum, Betrug? Emil Abderhalden und

die Geschichte der Abwehrfermente. Acta historica Leopoldina 36 (2000). S. 145 – 210.